
Die Bilder sind berührend und bestürzend zugleich: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts dokumentierte der Fotograf Lewis W. Hine das Leben von arbeitenden Kindern in den USA. Beauftragt von Amerikas erster Lobbyorganisation gegen Kinderarbeit, dem National Child Labor Committee, kämpfte er mit seiner Kamera als Waffe gegen die Ausbeutung der Kleinsten und Schwächsten, die, ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert, sowohl seelische als auch körperliche Verletzungen von ihrer Arbeit davontrugen.
Mit einem Vorwort von Jean Ziegler, Globalisierungsgegner und UN-Berater, zum Thema Kinderarbeit heute.
»Es ist grundlegend unrecht. Es steht im Widerspruch zu den elementarsten Prinzipien dieser freien Republik. Und das auf den Schultern eines Kindes, das körperlich noch nicht voll entwickelt ist, das keine ausreichende Zeit zum Spielen oder Lernen hatte. Dort sollte der geringste Anteil der Lasten der modernen Wettbewerbsgesellschaft ruhen.« (National Child Labour Committee)
Anfang des 20. Jahrhundert in den USA. Elf, oft zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche schuften sie unter der brennenden Sonnen auf den Baumwollfeldern von Texas und den Tabakplantagen Kentuckys. Heranwachsende Jungen fahren unter Tage in die stickigen Kohlegruben von Pennsylvania ein. Zarte, schmächtige Kinder, keine vier Jahre alt (!), stehen vor dem Morgengrauen auf, um pünktlich zum Schichtbeginn bei der Arbeit zu sein. Lewis W. Hine wird 1874 in eine arme Familie geboren, sein Vater starb früh und er muss seine Familie finanziell unterstützen. Als er arbeitslos wird, fängt er mit 25 Jahren an Naturkunde, Geografie und Erziehung zu studieren und wird Lehrer an der Ethical Culture School in New York. Als sein Direktor die Position des Schulfotografen besetzen will, fällt seine Wahl auf Hine.
Er erlernt das Fotografenhandwerk als Autodidakt und begann zu dieser Zeit auch, auf der New Yorker Einwandererstation Ellis Island zu fotografieren und fand seinen eigenen Stil. Er dokumentierte die sozialen Verhältnisse in New York auch für verschiedene Zeitschriften. 1908 wird er von der NCLC, der National Child Labour Committee, als Fotograf angestellt und engagiert sich mit seinen Fotografien für den Kampf gegen die Kinderarbeit. »Ich habe meine Bildungsbemühungen vom Klassenzimmer in die Welt hinaus verlagert« begründet er den Wechsel. Der NCLC ist eine 1904 gegründete Organisation, die sich dem Kampf gegen die Kinderarbeit verschrieben hat. Für Hine ist es wichtig, das Bewusstsein der amerikanischen Bevölkerung zu schärfen. Mit seinen Fotos wird er Empörung und Erschütterung auslösen. Für den NCLC macht er im Laufe mehrerer Jahre mehr als 5.000 Fotografien von Kindern, die einer schlecht bezahlten Arbeit nachgehen mussten. Bei dem Aufwand, den man bei der damaligen Technik betreiben musste, um ein Foto zu machen, eine unschätzbare Leistung.
Teils Vier-, Fünf-, Sechsjährige porträtiert er, denen unglaublich viel abverlangt wird: sie arbeiten viele Stunden, nachts, bei Kälte, im Dreck, teils ohne Schuhe, mit gefährlichem Werkzeug, müssen schwere Lasten tragen. Allseits bekannte Tätigkeiten wie Zeitungsjunge, Hotelpage und Babysitter sind dabei, aber auch solche wie Austernöffner und Brecherjungen (»Breaker Boys« – sie haben die Aufgabe, in einem Kohleschüttler Verunreinigungen von Kohle zu trennen). Schuhputzer, Zigarrendreher (»Die Jungen rauchen alle«), Feldarbeiter, Fischzerleger, Zuträger in der Glasfabrik … es gibt keinen Bereich, in dem Hine keine Kinderarbeit in Bildern festgehalten hat.
Dieser Wunderschöne Bildband zeigt mehr als 250 dieser Fotos, die in den Jahren 1908 bis 1917 entstand. Sie sind ein einmaliger fotografischer Beitrag zur Sozialgeschichte Amerikas. Hine hat es verstanden, die Kinder in ihrer Arbeitsatmosphäre in einer Natürlichkeit zu dokumentieren, welche ihre Überforderung, ihren körperlichen und seelischen Schmerz und ihre Ausweglosigkeit zum Ausdruck brachten. Es sind beeindruckende Porträts, einzigartige Bilder von ergreifenden Arbeitsszenen und stimmungsvolle Gruppenbilder, die in diversen Zeitungen und Magazinen abgedruckt wurden und so Amerikas Bevölkerung über einen ebenso dramatischen wie unhaltbaren Missstand aufklärte. Dabei ist Hine kein voyeuristischer Sensationsreporter – die Kamera ist seine Waffe im Kampf gegen eben jenes Elend: »Könnte ich die Geschichte in Worten erzählen, ich müsste keine Kamera mit mir herumschleppen.«
Für den einen oder anderen mag es befremdlich sein, dass man diese Geschichten und diese Bilder heute noch in einem opulenten Bildband veröffentlicht. Aber auch heute gibt es Kinderarbeit, wenn auch nicht in unserer direkten Umgebung. Aber teilweise profitieren wir von Kinderarbeit in dem einen oder anderen Land. Und das darf nicht sein. Es ist Zeit, darüber nachzudenken, und nicht mit-verantwortlich für Kinderarbeit in Dritte-Welt-Ländern zu sein. Ich hoffe sehr, dass dieser Band ein wenig dazu beiträgt.
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